Unfallschaden – Das Prognoserisiko bei der 130 % Reparatur
Der Geschädigte verunfallt mit seinem Fahrzeug. Er beauftragt einen Sachverständigen, das Schadengutachten zu erstellen. Die vom Sachverständigen kalkulierten Bruttoreparaturkosten liegen zwischen 100 % bis 130 % des Wiederbeschaffungswertes (das ist der Betrag, den das Fahrzeug in der logischen Sekunde vor dem Unfall wert war).
Während ein solcher Schaden in anderen Ländern nicht mehr reparabel ist, greift in Deutschland das sogenannte Integritätsinteresse. Lässt der Geschädigte sein Fahrzeug vollständig, fachgerecht und exakt nach Gutachten reparieren und nutzt er es sechs Monate nach dem Verkehrsunfall noch weiter, hat der Schädiger die konkreten Reparaturkosten zu ersetzen.
Doch was ist nun, wenn die gegnerische Versicherung meint, der Wiederbeschaffungswert sei zu hoch ermittelt und die Reparaturkosten lägen damit nicht mehr innerhalb der 130 % Grenze?
Mit dieser Frage hatte sich das Landgericht Aschaffenburg mit Urteil vom 28.07.22, 22 S 118/21 beschäftigt:
Bei jenem Fall hatte sich der Einwand der gegnerischen Haftpflichtversicherung sogar durch einen vom Gericht bestellten Sachverständigen bestätigt: Denn dieser Sachverständige ermittelte einen geringeren Wiederbeschaffungswert des verunfallten Fahrzeuges. Legte man diesen Wiederbeschaffungswert zugrunde, hätte der Kläger außerhalb der 130 % Grenze repariert.
Die gegnerische Versicherung meinte deshalb nicht die konkreten Reparaturkosten, sondern lediglich den sogenannten Wiederbeschaffungsaufwand (Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert) zahlen zu müssen.
Falsch entschied das Landgericht Aschaffenburg:
Eben jenes Prognoserisiko, dass das außergerichtlich durch den Geschädigten eingeholte Gutachten in Teilen nicht vollständig richtig ist, geht nicht zulasten des Geschädigten. Der Schädiger trägt es.
Der Geschädigte darf aus der ex-ante Sicht beurteilen, ob die 130 % Grenze durch die Reparatur überschritten wäre oder nicht. Das Prognoserisiko trägt der Schädiger!
Das Landgericht Aschaffenburg hat (wie bereits im Jahre 2015 durch das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht (Urteil vom 08.01.2015 – 7 U 5/14) die Rechte des Geschädigten gestärkt: Er darf sich auf das von ihm eingeholte Gutachten verlassen.